Eine Figurengruppe im Johannesaltar der Nürnberger St. Lorenzkirche zeigt das letzte Abendmahl Christi. Inmitten der Jünger lehnt sich ein Mensch bei Jesus an, der einzige ohne Bart in dieser Szene. Der geheimnisvolle, anonyme geliebte Jünger…
Das vierte Evangelium der Bibel wird Evangelium nach Johannes genannt. Doch erst im zweiten Jahrhundert hatte sich diese Bezeichnung etabliert, obwohl der Verfasser des Evangeliums im Text nicht mit Namen genannt wird. Stattdessen ist vom Jünger, den Jesus liebte, die Rede. Die wahre Identität bleibt im Text verschleiert. Warum auch immer…
Wenn man diesen Schleier für einen Moment mal genau dort lässt, wo er sich im Text befindet, und die spätere Identifikation mit Johannes kurz zur Seite schiebt – wie würde es dann klingen?
Dann würde es bei der Schriftlesung im Gottesdienst nicht mehr heißen: „Lesung für den heutigen Sonntag aus dem Evangelium nach Johannes im fünften Kapitel…“, sondern vielleicht:
„Lesung aus dem Evangelium über Jesus, das aus der Sicht des einen Menschen geschrieben wurde, den Jesus ganz besonders liebte, mehr als alle anderen Menschen…“
Wie wäre das? Mir würde das gefallen.
Aber wer war nun dieser geheimnisvolle geliebte Jünger? Diese Frage wird in der theologischen Forschung sehr kontrovers diskutiert. Die niederländische Theologin Esther de Boer hat in ihrer Recherche allein 17 verschiedene Kandidaten gefunden, die in der Forschung ins Spiel gebracht werden: Andreas, Lazarus, Apollos, Paulus, ein Schüler von Paulus, Benjamin, Judas Iskariot, Philippus, Nathanael, Judas – Bruder von Jesus, Johannes Markus, Johannes – Sohn von Zebedäus, Johannes der Ältere, Matthias, ein Jünger von Johannes vom Täufer, Thomas sowie ein Mönch aus Jerusalem [1].
17 Kandidaten, stellt Esther de Boer fest, und was sie gemeinsam haben: es waren alles Männer. In ihrem Buch diskutiert sie eine 18. Möglichkeit – Maria Magdalena. Sie analysiert das Johannesevangelium in wissenschaftlicher Tiefe ausführlich im Hinblick auf die Frage, ob es Maria Magdalena sein könnte. Und sie kommt zu dem Schluss, dass es gerade bei ihr als Frau Sinn gemacht haben könnte, ihre wahre Identität zu verschleiern – damit ihre Botschaft überhaupt in der männlich dominierten Welt akzeptiert werden würde.
Zwischen Jesus‘ Auferstehung und der Abfassung des Johannesevangliums wirkt schließlich zunächst der Apostel Paulus. Er gibt genau das vor, was dazu beigetragen haben könnte, die Autorin zu verschleiern: Seiner Meinung nach sollen Frauen in der christlichen Gemeinde ihren Kopf bedecken und schweigen [2]. Welche Chancen hätte in so einer Tradition das Evangelium einer Frau?
Evangelien, die von der Bibel ausgeschlossen wurden, waren sehr viel deutlicher in der Frage, wer der geliebte Jünger sein könnte, zum Beispiel hier:
„Da sprach Petrus zu Maria: ‚Schwester, wir wissen, dass der Erlöser dich geliebt hat, anders als die übrigen Frauen.“ (Maria, S.10, Z. 1-3 [3])
„Der Heiland liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger, und er küsste sie oftmals auf ihren Mund.“ (Philippus, Logion 55b [4])
„Zu Beginn tat Jesus diese Zeichen auf seiner Hochzeit an einem Platz bei Hyrcana.“ (Maria Magdalena, Kap. 6, V.9 [5])
Ist der geliebte Jünger eine geliebte Gefährtin? Die Frage, ob Jesus in einer Beziehung gelebt hat, verheiratet war, Kinder hatte usw. ist wie eine Brausetablette: Einmal gestellt, kochen sofort die Emotionen hoch.
Aber ganz ehrlich: Bei allem Reiz, den Spekulationen dazu haben, was kommt am Ende dabei raus? Was ändert sich wirklich für den eigenen Glauben durch die Vorstellung, dass auch Jesus in einer Liebesbeziehung gelebt haben könnte?
Vielleicht ist es einfach eine Familienangelegenheit. Am Schluss des Johannesevangeliums, Kap. 21, Vers 20-22, gibt es eine seltsame Szene, die sich in diese Richtung interpretieren lässt. Mit Maria Magdalena als dem geliebten Jünger könnte sie sich so lesen lassen:
„Als Petrus sah, dass Maria Magdalena ihnen folgte, fragte er Jesus: ‚Meister, jetzt wo du uns verlässt – was wird aus deiner Gefährtin? Wirst du sie mitnehmen, wenn du ins Himmelreich auffährst?‘ Jesus antwortete: ‚Selbst, wenn ich wollte, dass sie bis zum Jüngsten Tag hier auf Erden auf mich warten müsste – was geht es dich an? Konzentriere du dich darauf, die Kirche in meinem Sinn zu leiten.‘“
Eventuell ist das ein kleiner Reminder, bei sich selbst zu bleiben und sich nicht moralisch in die Beziehungen anderer Leute einzumischen. Interessanter als die Frage, ob Jesus und Maria Magdalena tatsächlich in einer Liebesbeziehung lebten, finde ich persönlich die Reaktionen, die diese Vorstellung auslöst und die Gedankenverbote, die dabei sofort automatisch aufpoppen.
Möglicherweise lebten eben auch Jesus und Magdalena in einer Lebensgemeinschaft, die von der Kirche nicht anerkannt wurde. Viele Pfarrer in verheimlichten Beziehungen sowie generell auch lesbische und schwule Christen können wahrscheinlich nachfühlen, was das bedeutet.
Zitierte Literatur:
[1] Esther de Boer, The Gospel of Mary, T&T Clark International, London, 2004, ISBN 0-8264-8001-2, S. 178-190
[2] Erster Brief Paulus an die Korinther, Kap. 11, Verse 5-6 bzw. Kap. 14, Verse 34-35.
[3] Evangelium der Maria, in: Jean-Yves Leloup, Evangelium der Maria Magdalena, 8. Auflage, Heyne-Verlag, 2008, ISBN 978-3-453-70092-5.
[4] Evangelium nach Philippus, in: Nag Hammadi Deutsch, Studientexte, Hans-Martin Schenke et al. (eds.), 3. Auflage, De Gruyter, 2013, https://doi.org/10.1515/9783110312355
[5] Evangelium nach Maria Magdalena, in: Jehanne de Quillan, The Gospel of the Beloved Companion – The Complete Gospel of Mary Magdalene", 2. Auflage, Éditions Athara", Ariège, Frankreich, 2010; englischer Text: "This beginning of his signs Yeshua did at his wedding feast at a place near Hyrcana [...]"
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