Unter dem Radar

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Die Kirche ist nicht gerade ein Magnet für Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl oder ausgeprägtem Selbstbewusstsein. Warum ist das so?

Immer, wenn ein kleines Baby, vielleicht gerade mal ein paar Monate alt, in der Kirche getauft wird, erinnert es mich daran, dass hier nicht einfach ein Willkommensfest in der christlichen Gemeinde gefeiert wird, sondern auch eine problematische Lehre in der Luft liegt: das Dogma der Erbsünde.

Unbewusst ist es deshalb vielleicht manchen Eltern so eilig mit der Taufe. Nach kirchlicher Lehre begleitet die Sünde als Erbe den Menschen vom Zeitpunkt der Geburt an – wahrscheinlich auch schon vor der Geburt, aber da kenne ich mich nicht aus. Um dem Fluch dieser ererbten Sünde zu entfliehen, gilt nach demnach die Säuglingstaufe als absolutes Minimum für die Erlösung vom Bösen.

Diese Sichtweise hat sich tief in unsere Kultur eingegraben: auf die Welt gekommen mit einem Erbsünde-Starterpaket. Erst der Apostel Paulus hat diese Interpretation des christlichen Glaubens ins Spiel gebracht. Bei Jesus ist davon noch nicht die Rede, sondern Paulus baut seine Lehre von Sünde, Sühneopfer, Erlösung auf dieser Grundannahme auf. Selbstbewusstsein ist in seiner Theologie fehl am Platz.

Es gibt eine alternative Sichtweise innerhalb des christlichen Glaubens, in der stattdessen viel Raum für Selbstwertgefühl ist – ganz anders als im abwertenden Menschenbild der paulinischen Interpretation.

Diese Sichtweise bedient sich in ihrer Bildersprache der antiken gnostischen Philosophie – auch wenn sie sich vom eigentlichen Gnostizismus stark unterscheidet. Wer einmal Texte aus dem Johannesevangelium oder dem ersten Johannesbrief gelesen hat, ist der gnostisch geprägten Gedankenwelt bereits begegnet.

Und hat möglicherweise bereits gemerkt, wie anders die Texte sind, die in der Bibel dem Apostel Johannes zugeschrieben werden, im Vergleich zu den Lehren des Apostel Paulus.

In der Bibel wird diese Spannung nicht aufgehoben, sondern es stehen Interpretationen von Menschen unterschiedlicher Prägung nebeneinander. Menschen sind eben unterschiedlich.

Was ist nun die Alternative zu Paulus? Es ist ein innerer Weg, der im Johannesevangelium anklingt und in den Evangelien nach Maria Magdalena deutlich wird, vor allem in Kap. 42 von [1] und S.7-9/15-17 in [2]. In ihrer Interpretation des christlichen Glaubens sind die folgenden Punkte zentral, und vielleicht klingen sie zunächst einmal etwas ungewohnt:

  1. Jeder Mensch kommt als gutes Wesen auf diese Welt und trägt eine Verbindung zum Göttlichen in sich. Wir sind nicht von Natur aus böse und schuldig, sondern naturgemäß gut und richtig. Liebe, Mitgefühl, Weisheit, Verständnis, Ehrgefühl, Demut, Mut und Stärke sind keine Tugenden, die außerhalb von uns liegen und die wir mühsam erlernen müssen, sondern sie sind elementare Bestandteile unserer eigenen Natur.
  2. Allerdings gerät man im Lauf des Lebens in mehr oder weniger viele Situationen, in denen man sich von dieser eigenen, wahren Natur entfernt, wodurch die ursprüngliche Einheit mit dem Göttlichen immer mehr verblassen kann. Natürliche Lebensenergien werden verdrängt durch Hass, Verachtung, Ignoranz, Intoleranz, Falschheit, Arroganz, Trägheit und Angst.
  3. Wenn im Evangelium nach Maria von Sünde gesprochen wird, ist damit die Entfremdung von der eigenen Natur gemeint. Der Sinn der christlichen Botschaft ist es, diese Entfremdung zu überbrücken, also Menschen wieder in die Einheit mit ihrer wahren Natur zu führen und ein Leben in Verbindung mit dem eigenen göttlichen Ursprung zu ermöglichen.
  4. Entscheidender Punkt: Liebe und Mitgefühl sind die Grundlage aller Dinge – sowohl für den Weg, zur eigenen Natur zurückzufinden, als auch für das Leben selbst. Es geht nicht um moralische Selbstoptimierung, sondern das ganze Leben ist von der Liebe Gottes getragen – so wie es jetzt ist. Das Mitgefühl Gottes umschließt alle Bereiche, wo Menschen sich in lebensfeindliche Energien verstricken. Nichts davon muss verdrängt oder unterdrückt werden, sollte es auch nicht. Das göttliche Mitgefühl beinhaltet nicht allein Vergebung für hasserfülltes Verhalten, sondern auch Mitgefühl für die Momente, in denen Hass überhaupt erst in das eigene Leben eingezogen ist. Mitgefühl für die Zeiten, in denen uns selbst Hass begegnet ist, wo wir Liebe hätten erfahren sollen. Und Mitgefühl für die Lebensbereiche, in denen wir diesen Hass verinnerlicht haben und uns selbst feindlich gegenüberstehen – also einfach alle Lebensbereiche, in denen das Leben anders verlaufen ist, als es der eigenen Natur entsprach.
  5. Die eigene Wahrnehmung kann ein wichtiger Schlüssel sein, um Lebensenergien neu zu bewerten. Maria Magdalena schreibt davon, sich von der Belastung durch Hass und der Verachtung zu befreien – während viele Menschen in ihrer Verbitterung daran festhalten, als wären Unversöhnlichkeit und die Erinnerung an Unrecht ein Gutschein für eine ausgleichende Gerechtigkeit, eine offene Rechnung mit dem Universum. Lebensfeindliche Energien als Belastung wahrzunehmen und sie neu zu bewerten, kann in eine befreiende Richtung weisen und Leichtigkeit vermitteln.
  6. In diesem Prozess der Befreiung sind wir nicht allein. Die Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme“ zeigt, dass es ein sinnvolles Anliegen für ein Gebet sein kann, göttliche Unterstützung zu suchen für den Prozess, dass sich die göttliche Natur wieder im eigenen Leben ausbreiten kann: spirituelle Klarheit, Heilung, Güte und Geborgenheit.

Das ist zumindest meine Interpretation ihrer Lehre, das ist, warum ich mit den Evangelien nach Maria Magdalena mehr anfangen kann als mit manchem, was Paulus gelehrt hat:

Magdalenas Lehre untergräbt nicht das Selbstwertgefühl, sondern ist verbindend und wertschätzend.

Sie ist nicht dogmatisch oder auf die korrekte Glaubensauffassung bedacht, sondern stellt die eigene Wahrnehmung in den Mittelpunkt.

Es geht nicht um absoluten Gehorsam, sondern um eine erfüllende Form der Selbstverwirklichung – der wahren eigenen Natur.

Damit ist Maria Magdalenas Glaubensverständnis – anders als das von Paulus – schlecht geeignet, um Macht über andere Menschen auszuüben, denn ihre Lehre zielt auf ein selbstbewusstes spirituelles Leben ab.

Unattraktiv für autoritäre Herrscher, die ihre Macht mit einer passenden Kirchenstruktur untermauern wollen – sei es ein römischer Kaiser oder ein amerikanischer König. Für diesen Zweck passen Briefe von Paulus manchmal einfach besser.

 

Zitierte Literatur:

[1] Evangelium nach Maria Magdalena. In: Jehanne de Quillan, The Gospel of the Beloved Companion – The Complete Gospel of Mary Magdalene", 2. Auflage, Éditions Athara", Ariège, Frankreich, 2010.

[2] Jean-Yves Leloup, Evangelium der Maria Magdalena, 8. Auflage, Heyne-Verlag, 2008, ISBN 978-3-453-70092-5.

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